Kapitel 30

Zuerst bemerkte er den Schmerz. Es war, als stächen hundert Messer in seine Eingeweide. Gideon stöhnte und versuchte, sich um seine schmerzende Mitte zusammenzukrümmen. Doch die Messerstiche wurden nur noch schlimmer. Langsam gewann sein Bewusstsein die Oberhand und somit auch die Erinnerungen. Getötete Schafe. Ein Hinterhalt. José. Eine Kugel in seinem Bauch. Petchey.

Er kämpfte darum, seine Augen zu öffnen, aber seine Lider waren wie festgeklebt. Er klammerte sich weiter an die Erinnerungen. Wenn er den Schmerz spüren konnte, war er noch nicht tot. Aber es gab keine Gewissheit, dass er noch lange durchhalten würde. Er musste mit James reden. Jetzt. Bevor es zu spät war. Er musste Addie und Bella beschützen.

Mit übermenschlicher Willenskraft zwang er seine Augen, sich zu öffnen und sich auf die getünchte Zimmerdecke zu konzentrieren. Als er mit großer Anstrengung den Kopf zur Seite drehte, kam der Küchenherd in Sicht. Und wenn er sich nicht täuschte, war der schwarze Fleck davor das Kleid seiner Köchin.

Mrs Garrett erhob sich und zog eine Pfanne aus dem Ofen. Sie stieß die Ofentür mit dem Fuß zu und grummelte etwas über starrköpfige Männer, die ein perfektes Abendessen ruinierten, weil sie sich anschießen ließen.

Dabei schluchzte sie und tupfte sich immer wieder mit der Schürze die Augen ab. Gideon hätte nie gedacht, dass er seine treue Köchin jemals in Tränen aufgelöst sehen würde. Bestimmt galt ihre Trauer eher dem verbrannten Truthahn als ihm. Seine Mundwinkel zuckten bei diesem Gedanken. Er fragte sich, ob Mrs Garrett ihre kleinen Auseinandersetzungen vermissen würde, wenn er tot war.

„Er hat sich bewegt, Mr Bevin.“

Gideon erkannte die Stimme von Mrs Chalmers, aber er konnte sie nicht sehen. Holz kratzte über den Boden, als links von ihm jemand einen Stuhl verschob. Mit zusammengebissenen Zähnen drehte er den Kopf in die andere Richtung.

„Willkommen zurück, Gid.“ James beugte sich über ihn. Die tiefe Sorge in seinen Augen bildete einen großen Kontrast zu dem erleichterten Lächeln auf seinen Lippen.

„Ich hole Miss Proctor.“ Wieder die Stimme seiner Haushälterin.

„Nein.“ Gideon schaffte es kaum, das Wort aus seiner trockenen Kehle zu pressen, doch anscheinend hatte Mrs Chalmers ihn trotzdem gehört. Ihr Kopf tauchte über James’ Schulter auf.

„Warum nicht?“ Sie starrte ihn böse an. „Das liebe Mädchen hat Sie zusammengeflickt und ist erst von Ihrer Seite gewichen, als Isabella sie brauchte. Sie hat mir aufgetragen, sie sofort zu rufen, sollte sich an Ihrem Zustand etwas ändern. Ich werde mein Versprechen natürlich halten.“

Gideon hatte noch nie erlebt, dass einer seiner Angestellten ihm Widerworte gab, doch er spürte ihre Sorge und ihr Mitgefühl in ihren Worten. Außerdem gefiel es ihm, dass Adelaide Mrs Chalmers’ Unterstützung hatte. Sie würde das in den kommenden Monaten brauchen.

„Ich will Addie sehen, aber … erst muss ich mit James reden. Allein.“ Gideon starrte Mrs Chalmers an und betete, dass sie ihn verstand. „Ich muss meine Dinge regeln. Für Bella. Bevor ich …“

Er konnte es nicht laut aussprechen. Er wusste, dass er starb. Keiner überlebte eine solche Bauchwunde. Doch irgendein Teil in ihm schien das noch nicht akzeptiert zu haben, denn obwohl er darauf gefasst war zu sterben, konnte er es dennoch nicht laut aussprechen.

Seine Haushälterin brach in Tränen aus. „Natürlich, Sir.“ Sie machte einen Knicks und wandte sich dann mit einem Räuspern an die Köchin. „Mabel, ich könnte im Speisezimmer Hilfe mit dem Geschirr brauchen.“

Mrs Chalmers verließ den Raum. Sofort folgte Mrs Garrett ihr, ohne sich darüber zu beschweren, dass sie aus ihrer eigenen Küche geworfen worden war. Seltsam, wie diese ungewöhnliche Reaktion ihn deprimierte. Hatte niemand den Mut, ihm seine Meinung zu sagen? Wollte ihm niemand Hoffnung machen, dass er es schaffen könnte? Niedergeschlagenheit schien sich in Westcott Cottage breitgemacht zu haben, während er bewusstlos gewesen war.

Doch wer war er, dass er Hoffnung von den anderen verlangte, wo er doch selbst keine hatte? Wenn jede Bewegung nicht so geschmerzt hätte, hätte er frustriert mit der Faust auf den Tisch geschlagen.

Hatte Addie ihn auch aufgegeben? Der Gedanke daran ließ ihn erschaudern. Doch dann erinnerte er sich daran, wie sie ihm befohlen hatte, nicht ohnmächtig zu werden. Ihr entschlossener Gesichtsausdruck hatte keinen Widerspruch zugelassen. Nein, Addie war eine Kämpferin. Er konnte sich vage erinnern, dass sie sich um seine Wunde gekümmert und James Anweisungen gegeben hatte, wie ein General, der keinen Widerstand duldete. Wenn jemand ihn zurück ins Land der Lebenden holen konnte, dann Addie. Doch auf ein solches Wunder wollte er sich in seiner Situation nicht verlassen. Er hatte vor, alles zu tun, um sie und Bella zu beschützen.

„Chalmers?“

„Hier, Sir.“ Der Butler trat in sein Sichtfeld.

Er versuchte, sich dem Mann zuzuwenden, doch der Schmerz raubte ihm einen Moment lang jeden Gedanken. Gideon schloss die Augen. Er musste sich zusammenreißen, um seinen Plan durchführen zu können.

„Sir?“

„Holen Sie bitte … Stift und Tinte aus meinem Büro … und ein paar Blätter.“

„Sofort, Sir.“

James ließ sich neben ihm auf einem Stuhl nieder und umklammerte die Tischkante. „Du musst das jetzt nicht machen, Gideon. Du solltest deine Kräfte schonen. Die Papiere können warten.“

„Nein. Können sie nicht.“ Gideons Augen bohrten sich in die seines Freundes. „Du kennst meine Überlebenschance, James. Verschwindend gering, wenn überhaupt. Petchey … ist immer noch da draußen. Wenn ich tot bin, wird er sich Bella schnappen. Das kann ich nicht zulassen.“

Ein Krampf überfiel ihn plötzlich. Gideon schaffte es gerade noch, einen lauten Aufschrei zu unterdrücken. Er packte James’ Handgelenk und biss die Zähne zusammen. Als der Anfall vorüber war, entspannte er sich, ließ den Arm seines Freundes aber nicht wieder los.

„Ich brauche dich, um … ein neues Testament zu machen. Setz Adelaide als meine Alleinerbin ein und … als Bellas Vormund. Dann bereite eine Heiratsurkunde vor.“

James’ Mund klappte erschrocken auf. „Eine was?“

„Eine Heiratsurkunde.“

James rutschte unruhig auf seinem Stuhl hin und her. „Du meinst es ernst.“

„Ja.“ Gideon ließ das Handgelenk seines Freundes schließlich doch los und seufzte. „Es ist … die beste Lösung.“

„Hör mal, Gid. Ich weiß, dass du Gefühle für das Mädchen hast, aber das ist doch albern.“ James sprang auf und schritt nervös neben dem Tisch auf und ab. „Überlass ihr das Haus, das Geld und Bella. Du musst keine Scheinzeremonie durchführen lassen. Denk an Adelaide. Es wäre grausam, sie um ihre Hand zu fragen, wenn sie innerhalb einer Woche zur Witwe wird.“

Ein entsetzter Gesichtsausdruck verzerrte James’ Züge, als er merkte, was er da gerade gesagt hatte. „Ich meinte es nicht …“

„Aber es ist die Wahrheit.“ Gideon sprach ruhig und bestimmt. Es war fast eine Erleichterung, dass jemand diese Worte für ihn ausgesprochen hatte. Doch er brauchte James’ Hilfe. Er musste es ihm verständlich machen.

„Ich denke nur an Addie. Sie hat keinen Vater, keine Brüder, niemanden, der sich um sie kümmert. Wenn Petchey bereit war, mich zu töten, um Bella zu bekommen, was … wird ihn dann davon abhalten, das Gleiche mit Addie zu machen … wenn ich nicht mehr bin?“

James ließ sich wieder auf den Stuhl fallen. „Ich würde mich um sie kümmern, Gideon. Das weißt du.“

„Aber wie lange? Du hast dein eigenes Leben, dein Geschäft in Fort Worth. Selbst wenn es keinen Petchey gäbe … würde ich Addie und Bella nicht allein hier draußen lassen wollen. Als meine Witwe hat sie einen Platz im Haus meiner Familie, den Schutz meines Vaters und meiner Brüder. Sie können herkommen und … sie und Bella nach England holen. Sich um ihre finanziellen Bedürfnisse kümmern. Ihre Sicherheit.“

Gideon drehte sich mühsam auf die Seite und sah seinen Freund fest an. Die Autorität, die ihm seine Geburt mitgegeben hatte, erwachte in ihm.

„Schreib ihnen, James. Sag ihnen, dass sie herkommen sollen. Du musst so lange hierbleiben, bis sie angekommen sind, aber sobald sie hier sind, werden sie sich um Addie kümmern. Sie hat mir erzählt, wie sehr sie sich danach sehnt, die Familie zu ersetzen, die sie verloren hat. Ich kann ihr das geben, James. Ich werde … ihr das geben.“

„Und du bist dir ganz sicher?“, fragte James.

„Ja.“

James nickte knapp. „Gut. Dann kümmere ich mich darum.“

„Danke“, sagte Gideon erleichtert. „Eine Heirat wird Addies Anspruch auf Bella stärken, sie an mich binden und damit an das Versprechen, das ich Lady Petchey gegeben habe. Sie und Bella müssen zusammenbleiben. Wenn ich sterbe, würde Bella es nicht verkraften, auch noch Addie zu verlieren.“

Er schluckte schwer und zwang seine Gedanken, das düstere Bild loszulassen, das in ihm aufstieg. Stattdessen wollte er lieber an Addies und Bellas Lachen denken und an die glücklichen Stunden, die sie gemeinsam verbracht hatten. Addie mit ihren funkelnden braunen Augen. Wie sie lachend ihre Stute über die Hügel ritt und in jeder Gefahrensituation mutig dem Unheil entgegentrat.

Gideon konnte sich keine bessere Art vorstellen, diese Welt zu verlassen, als mit dem Gedanken, dass diese wunderbare Frau für kurze Zeit sein gewesen war.

„Ich habe hier alles für Sie, Sir.“ Chalmers betrat den Raum und hielt James Papier, Stift und Tinte hin. Dann half er dabei, Gideon wieder flach hinzulegen.

Gideon war dankbar für die Unterstützung. Jetzt, wo James sich über das Papier beugte, um die nötigen Dokumente aufzusetzen, schwanden Gideons Kräfte wieder. Er fühlte sich schwächer als je zuvor.

„Der Arzt sollte bald hier sein, Sir.“ Chalmers knetete aufgeregt seine Hände und sah aus, als hätte er am liebsten noch einen Auftrag bekommen, den er ausführen könnte. „Kann ich Ihnen noch eine Decke oder ein Kissen holen?“

Gideon knirschte bei dem Gedanken, dass ihn jemand bewegen könnte, mit den Zähnen. „Ich … will einfach nur … kurz stillliegen.“

Der Butler sank in sich zusammen.

Gideon hatte Mitleid mit ihm. „Aber vielleicht wäre es ganz gut, wenn wir … es hier schon parat hätten.“

In diesem Moment hörte er eine leise Stimme im Flur. Gideon erstarrte.

„Es hat geklappt, Miss Addie!“

Sein Herz machte einen Satz bei dem Klang einer Kinderstimme. Warum hatte er Chalmers gerade verboten, ihm einen Stapel Kissen unter seinen Kopf zu schieben, sodass seine Augen sehen konnten, was seine Ohren hörten? Er versuchte, den Kopf zu heben, konnte seine Schultern jedoch nicht bewegen. Enttäuschung durchflutete ihn.

„Sehen Sie? Es geht ihm besser.“

Tränen traten ihm in die Augen.

„Bella?“

Sturz ins Glück
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